Klimadiskurs.NRW

„Strukturwandel braucht langen Atem“: Partizipation im Rheinischen Revier


am 30.11.20 von Dr. Jan-Hendrik Kamlage gepostet

Der Kohleausstieg ist politisch beschlossen (BMWi 2020). Der Bund begleitet und fördert den Strukturwandel in den deutschen Braunkohlerevieren mit rund 40 Milliarden Euro bis zum Jahr 2038 (Bundesregierung 2020). Im Rheinischen Revier hat die Förderung besonders wichtiger Vorhaben unter großem Zeitdruck bereits begonnen. Die Ziele: nachhaltige Infrastrukturen aufbauen, Arbeitsplätze schaffen, die Wirtschaftsstruktur diversifizieren und Klima-, Natur- und Umweltschutz betreiben, um die  Klimaziele zu erreichen und die Region zukunftsfähig zu machen. Dieser Zeitdruck hat negative Folgen für die Beteiligung und die Qualität der Förderung!

Ein Beitrag von Jan-Hendrik Kamlage, Julia-Lena Reinermann, Ute Goerke, Sonja Knobbe & Nicole de Vries

FZJ Sascha Kreklau / KWI

Kohle – Geld – Wandel

Auf das Rheinische Revier entfallen rund 15 Milliarden Euro. Eine einmalige Chance nicht nur für die Region, sondern auch für NRW und die europäischen Nachbarregionen, eine zukunftsfähige Gesellschaft und Wirtschaftsweise aufzubauen. Die Reichweite und Tiefe des nun möglichen Wandels sind enorm. In den nächsten Jahren wird es hier zum Beispiel möglich, zukunftsweisende Mobilitätsformen zu erproben, neue Formen der Energieproduktion zu entwickeln, eine Modellregion Bioökonomie aufzubauen und damit einhergehend neue Bedeutungen, Vorstellungen und Bilder in der Gesellschaft zu schaffen – auch von Lebensqualität, Wachstum und Wohlstand. Kurz: Das Leben und Arbeiten sowie der Umgang mit der Natur stehen zur Debatte.

Doch die Chance, eine nachhaltige und damit zukunftsfähige Gesellschaft zu gestalten, bedeutet auch bewährte Pfade zu verlassen. Mut für ungewohnte Lösungen und neue Perspektiven zu entwickeln, braucht neben Zeit auch die Inklusion vieler Perspektiven und Interessen. Allerdings schaffen die Akteure im Land und im Rheinischen Revier seit dem Jahr 2019 Fakten unter großem Zeitdruck! Die Förderung hat begonnen, ohne dass ambitionierte und reflexive Governance-Strukturen aufgebaut wurden und eine fundierte Programmentwicklung stattgefunden hat. Beides braucht es aber, um die Förderung bis zum Jahr 2038 erfolgreich zu gestalten und umzusetzen. Wir argumentieren in diesem Beitrag, dass dieser Zeitdruck zu Lasten der Transparenz, der inklusiven Beteiligung und der Begründetheit und letztlich der Qualität der Förderung geht. Mehr noch: Es besteht die Gefahr, dass man nun Entwicklungspfade einschlägt, die später nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Dieses Vorgehen wiederum führt zu Unzufriedenheit und Akzeptanzproblemen in der Region, wie schon jetzt zu sehen ist.  

Zukunft geht alle an: Wer gestaltet wie? 

Die politische Gestaltung einer Transformation dieser Größenordnung bedarf der demokratischen Teilhabe und Mitbestimmung in den Parlamenten, Stadträten und Parteien. Ergänzend hierzu sind informelle und konsultative Beteiligungsformate notwendig, um akzeptierte und von vielen mitgestaltete Ergebnisse zu erreichen. So sollten neben den organisierten Interessen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft auch und gerade die Bürger*innen eingebunden werden. Die Logik dahinter ist einfach: Das Wissen der Vielen bringt im Idealfall a) gute und akzeptierte Entscheidungen und b) macht die Beteiligten zu Träger*innen und Gestalter*innen des Wandels. 

Um diesen Ansprüchen gerecht zu werden, bietet sich eine partizipative Governancestruktur an, wie sie in der Europäischen Regionalpolitik entwickelt und erprobt wurde (European Code of Conduct on Partnership 2014). Partizipativ betont dabei den Charakter von Instrumenten, die informieren und unmittelbare Beteiligung der Bevölkerung sowie organisierter Interessen ermöglichen. Die Herausforderung besteht darin, aus der Vielzahl die für die Beteiligten passenden Formate auszuwählen und sinnhaft miteinander zu verbinden.

Wie sieht die Realität aus?

Was wir bis jetzt im Rheinischen Revier erleben, wird diesen Ansprüchen allerdings noch nicht gerecht. Momentan sind die Bemühungen der Landesregierung getrieben von einem hohen Zeitdruck, der u. a. auf die Bundespolitik zurückzuführen ist (BMWI 2019). Ziel ist es, nach dem Kohlekompromiss die Mittel möglichst schnell in den Regionen zu verausgaben, um politische Handlungsfähigkeit zu zeigen und soziale Härten und ungewollte politische Folgen wie in der Lausitz zu vermeiden. Dort konnte die AfD bei den Kommunalwahlen des Jahres 2019 in dem von Kohleausstieg betroffenen Landesteilen starke Gewinne verbuchen (Haas 2020). Für die Jahre 2020 und 2021 wurden deshalb jeweils eine Milliarde Euro für Soforthilfen zur Verfügung gestellt für “besonders bedeutsame Investitionen” (ZRR 2019a, NRW 2019). Man handelt nach dem Motto: Klotzen nicht Kleckern.

Koordiniert werden die bereits geförderten Projekte des Sofortprogramms und die Auswahl weiterer Projekte im Rheinischen Revier von der Zukunftsagentur (ZRR) in Abstimmung mit der Landesregierung. Die ZRR ist die zentrale Instanz des Strukturwandels. Sie erarbeitet mit den Akteuren vor Ort den Handlungsrahmen, das Wirtschafts- und Strukturprogramm (WSP). In dieser sehr kurzen Zeit (Sep.-Dez. 2019) kamen neben den Kommunalvertretern und Forschungseinrichtungen vor allem organisierte, wirtschaftsnahe Interessen zu Wort. Vertreter*innen der organisierten Zivilgesellschaft und des Naturschutzes waren zwar vereinzelt vertreten, fühlten sich aber nicht hinreichend gehört. Sie kommunizieren offen ihr Misstrauen gegenüber dem Anspruch der ZRR, eine transparente, systematische Beteiligung durchzuführen (Grothus 2019). 

Seit April 2020 bis zum Ende des Jahres läuft nun zusätzlich der Beteiligungsprozess  “Unser Zukunftsrevier” organisiert von einem Beteiligungsdienstleister im Auftrag der ZRR, der primär die Bürger*innen adressiert. Der Plan war ambitioniert: Im Sommer und Herbst 2020 sollten durch Revierforen, Revier-Gespräche, Revier-Touren, Revier-Werkstätten sowie einen Online-Dialog die Bürger*innen beteiligt werden. Im Revier leben rund zwei Millionen Menschen, die ansprechbar sind. Zudem hat die Corona-Pandemie die Beteiligung der Menschen erheblich erschwert; viele der geplanten Formate mussten online stattfinden. 

Als Ergebnisse der Beteiligung soll ein Gutachten zum WSP entstehen und eine Beteiligungscharta mit Grundsätzen guter Bürger*innenbeteiligung für zukünftige Beteiligungsaktivitäten im Revier entwickelt werden (ZRR 2020).

Die Folgen für das Revier

Der politische Druck war groß. Es sollten “sichtbare Signale und eine Aufbruchstimmung in der Region” frühzeitig erzeugt  und mit der Förderung  begonnen werden (ZRR 2019). Das Motiv dafür ist nachvollziehbar. Man wollte den Menschen ihre Ängste um Arbeitsplätze und ihre Zukunft nehmen. Klar ist: Strukturwandel hat immer auch eine soziale Seite neben der investiven. So nahm man in Kauf, kein voll entwickeltes und umfassend begründetes Programm mit umfänglicher Ausgangsanalyse, daraus abgeleiteten Zielen, Maßnahmen und Indikatoren für Erfolg und Misserfolg sowie einen Plan zum Aufbau einer regionalen, partizipativen Governancestruktur zu entwerfen. Stattdessen ging man parallel zur Erstellung des WSP in die Förderung von Einzelvorhaben. Die Auswahl der Projekte des Sofortprogramms erscheint laut der Kritiker*innen auch deshalb wenig fokussiert und eher nach dem Gießkannenprinzip zu verlaufen (LNU, BUND & NABU 2020).

Einen Geburtsfehler, den es zu korrigieren gilt. Mehr Zeit hätte es erlaubt, auch über die wirtschaftsnahen Interessen hinaus zu beteiligen und die Zivilgesellschaft besser einzubinden. Darüber hinaus hätte man eine fundierte Förderstrategie und Programmatik entwickelt können. Ohne eine solche fängt man sich ohne Not den Verdacht der Willkür und Intransparenz ein, fördert Proporzdenken der lokalen Akteure und erschwert klare Priorisierungen der Förderung (Aachener Zeitung 2020). Hier gilt es aus unserer Sicht nachzubessern.

Die Bürgerschaft erst nach der Erstellung einer ersten Version des WSP zu konsultieren, ist durchaus übliche Praxis. Warum man allerdings auch für diese nur sehr wenig Zeit einplant hat, ist nicht nachvollziehbar und fördert wiederum die Unzufriedenheit.

Doch schauen wir nach vorne: Bis zum Jahr 2038 bleibt genug Zeit, die Förderung konzeptionell neu aufzustellen, eine von vielen getragene Vision zu entwickeln und mit langfristigen Perspektiven und Strukturen aufzubauen. Dafür wäre eine klare und markante Trennung zwischen kurzfristigem Sofortprogramm und langfristiger regionaler Förderung wichtig. So könnte man signalisieren, dass nun eine langfristige, fundierte und nachhaltige Förderidee im Fokus steht mit den zu entwickelnden Governancestrukturen.   

Dazu bedarf es aus unserer Sicht: 

·       die ZRR und ihre Leitungsgremien aus- und umzubauen, 

·       ständige Beteiligungsgremien und Strukturen schrittweise aufbauen, 

·       neue direkte Beteiligungsformate zu erproben und 

·       die Programmatik weiter zu fundieren sowie

·       Mechanismen der Evaluation zu integrieren (Herberg et al. 2020). 

Strukturwandel braucht einen langen Atem und Geduld, wie man aus dem Ruhrgebiet lernen kann. Soviel ist sicher!

Die AutorInnen forschen im Rahmen des Projektes BioökonomieREVIER, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird. Mehr Informationen zum Projekt finden Sie hier: Website

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