Klimadiskurs.NRW

Krise bewältigen. Tempo machen.


Nach der zwei-, inzwischen dreijährigen Pandemie stecken Staat, Gesellschaft und Wirtschaft gleich in der nächsten Fundamentalkrise: Infolge des russischen Überfalls auf die Ukraine befinden sich deutsche und europäische Energiesysteme im Ausnahmezustand. Wie können wir die in den letzten Jahren mobilisierten Kräfte nutzen, um Veränderungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat schneller als bisher voranzutreiben?

von Dr.-Ing. Matthias Dienhart, Leiter Energiewirtschaftliche Grundsatzfragen & Frank Bender, Leiter Unternehmenskommunikation, RheinEnergie AG

Noch immer sind die letzten Auswirkungen der Corona-Pandemie aus dem „Betriebssystem“ unserer Wirtschaft nicht ganz verschwunden. In der Pflege und in den Kritischen Infrastrukturen, den so genannten KRITIS-Bereichen, für die Daseinsvorsorge etwa gelten weiterhin erhöhte Schutzmaßnahmen und Sicherheitsstandards. Der Wertschöpfungsverlust durch die Corona-Maßnahmen in Deutschland wird auf bis zu 500 Mrd. Euro geschätzt. Wie hoch der psychosoziale und politische Schuldschein der Pandemie für unsere Gesellschaft – für Familien, Nachbarschaften, Freundeskreise, Vereine, den Kulturbetrieb und insbesondere für unsere Bildungseinrichtungen – ausfallen wird, dämmert uns erst jetzt so langsam.

Die Energiekrise und der ihr zugrunde liegende Krieg im Osten Europas führt uns nach dem Ende des 2. Weltkriegs und dem Fall des Eisernen Vorhangs an eine neue Schwelle, die wir mit den europäischen Partnern und militärischen Verbündeten gemeinsam zu meistern haben. Für die Generation der Babyboomer und der danach sind viele Grundfesten ins Wanken geraten. Die viel zitierte „Zeitenwende“ reflektiert dies im kollektiven öffentlichen Bewusstsein.

Die Energiebranche ist in einem tiefgreifenden Wandel

Seit dem „Mannesmann-Röhren-Geschäft“ zählten die energiewirtschaftliche Verbindung zwischen der Sowjetunion bzw. Russland und die Rohstoffversorgung aus Sibirien zur unerschütterlichen deutschen Staatsraison. Dass dies mit einer schleichenden Abhängigkeit unserer Wirtschaft und unseres Wohlstands einherging, dafür waren wir lange auf einem Auge blind. Oder wir haben es zugekniffen. Diese Versorgungsbrücke auf dem Weg in eine Dekarbonisierung haben russische Panzer mit dem 24. Februar 2022 in Schutt und Asche gelegt. Für die europäische und vor allem für die deutsche Energiewirtschaft ist seitdem nichts mehr so wie „früher“. Nur die wichtigsten Stichworte dazu lauten bislang: Vorbereitung auf eine Gasmangellage, Energiesparappelle, explodierende Börsen- und Verbraucherpreise für Strom, Gas und Wärme, staatliche Entlastungspakete, Laufzeitverlängerung für Kernkraft- und Kohlekraftwerke. Das alles und noch mehr hat eine Koalition zu bewerkstelligen, die 2021 antrat „mehr Fortschritt zu wagen“. Auch sie ist mit Kriegsbeginn „in einer anderen Welt aufgewacht“. Und mit ihr die Energiebranche.

Wie mit all dem umgehen? So paradox es klingen mag, so liegt in der Krise auch eine Chance. Ohne Zweifel hat „Corona“ dazu beigetragen, in den Unternehmen und Organisationen – gleich welcher Branche – die Digitalisierung weiter Verwaltungs- und Büroarbeitsplätze schlagartig voranzutreiben. Und mit ihr die Umstellung von Arbeitsprozessen und eine neue Flexibilität von Zuhause- und Präsenzarbeit. Noch tiefgreifender verändern sich die Einstellungen und Verhaltensweisen zur Energieversorgung. Das gilt für den einzelnen Hausbesitzer und Mieter ebenso wie für den mittelständischen und Industriebetrieb. Wer sich nicht längst aus Gründen des Klimaschutzes und des Marktes auf den Weg gemacht hat, sich von fossilen Energieträgern möglichst schnell unabhängig(er) zu machen, der nimmt jetzt aus Versorgungssicherheits- und Marktgründen Fahrt auf.

Das Momentum des Wandels nutzen – Transformation positiv gestalten

Darin steckt ein Momentum für unsere Gesellschaft. Vieles hängt nun davon ab, ob und wie wir es nutzen für die großen Transformationsaufgaben, die bei Energie, Industrie, Wohnen, Mobilität und Digitalität vor uns liegen, um uns gegen Krisen resilienter und für die Zukunft fit zu machen. JETZT müssen wir weniger alles sehr genau machen, sondern viel sehr schnell. Wir brauchen einen „Wumms“ beim Umbau der Energieerzeugung bundesweit dort, wo die Ausbaupläne zurückliegen – also auch in NRW. Es geht um Wind-an-Land, um Photovoltaik auf Freiflächen und Haus- wie Gewerbedächern, um den Ausbau der Netze. Und es geht um die Beschleunigung einer grünen Wärmeversorgung. Um den Hochlauf von Wärmepumpen und den Aufbau einer funktionierenden Wasserstoffwirtschaft. Um eine kommunale Wärmeplanung, die am Ende orts-, straßen- und in letzter Konsequenz gebäudescharf definiert, wie die CO2-freie Wärmeversorgung künftig sichergestellt wird. Neben allen technischen, wirtschaftlichen, regulatorischen und kapazitativen Voraussetzungen braucht es dafür eines: den unbedingten Willen, das Ziel zu erreichen. Dann halten wir das Tempo, das uns die Krisenbewältigung aufgibt.

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