Klimadiskurs.NRW

5 Fragen an… Prof. Dr. Imme Scholz


Prof. Dr. Imme Scholz, ist stellvertretende Vorsitzende des Rates für Nachhaltige Entwicklung, Diplomsoziologin und stellvertretende Direktorin des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE) in Bonn. Sie arbeitet seit über 20 Jahren zu verschiedenen Fragestellungen an der Schnittstelle von Umwelt und Entwicklung, u.a. zu Land- und Waldnutzung in Amazonien, nachhaltigem Konsum, Anpassung an den Klimawandel, der Rolle von Entwicklungspolitik bei der Förderung der internationalen Umweltzusammenarbeit.

Seit 1996 ist Imme Scholz Mitglied der Kammer für nachhaltige Entwicklung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Sie ist zudem seit 2019 Honorarprofessorin für globale Nachhaltigkeit und ihre normativen Grundlagen am Zentrum für Ethik und Verantwortung der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Imme Scholz ist seit 2013 Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung und wurde 2016 sowie 2020 wiederberufen. Seit 2020 ist sie stellvertretende Ratsvorsitzende.

KlimaDiskurs.NRW: Liebe Frau Professor Scholz, das Jahr 2021 hat begonnen, das heißt, wenn wir die Nachhaltigkeitsziele bis Ende 2030 erreichen wollen, haben wir noch 10 Jahre Zeit. Schaffen wir das, wo stehen wir da in Deutschland?

In der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie hat die Bundesregierung festgelegt, wie sie die SDGs auf Deutschland bezieht und welche konkreten Ziele sie erreichen will. Der Bericht des Statistischen Bundesamtes vom Herbst 2018 zeigt ein gemischtes Bild: die Hälfte der Indikatoren wird positiv bewertet, dies gilt vor allem für Ziele, die mit der hohen volkswirtschaftlichen Leistungskraft und den guten Steuereinnahmen zusammenhängen. Schlecht schneiden aber genau die Indikatoren ab, die wesentliche Transformationsprozesse beschreiben, wie die Verringerung des Energieverbrauchs, insbesondere im Güter- und Personenverkehr, die Steigerung des Anteils der erneuerbaren Energien. Auch bei der Überschneidung von Agrar- und Umweltpolitik sieht es nicht gut aus: der Schutz der Biodiversität, des Grundwassers, der Fließgewässer, der Nord- und Ostsee vor übermäßigen Nährstoffeinträgen, Stickstoff, Nitraten und Phosphor kommt nicht voran. Auch die sozialen Grundlagen gesellschaftlicher Zukunftsfähigkeit könnten in einem besseren Zustand sein: der Zugang zur Ganztagsbetreuung von Kindern unter sechs Jahren stagniert und die Anzahl der jungen Menschen mit Migrationshintergrund, die die Schule ohne Abschluss verlassen, wächst. Insgesamt verringert sich die vorzeitige Sterblichkeit nicht und die Fettleibigkeit nimmt zu.

Der Bericht des Sustainable Solutions Development Network (SDSN) von 2020 zeigt, dass Deutschland wie viele andere Industrieländer etwa 20% unterhalb des notwendigen Pfades zu den SDGs liegt. Zum Vergleich: Schwellenländer liegen in der Regel etwa 20 bis 40% unterhalb des notwendigen Pfades, ärmere Entwicklungsländer um die 50%. Hier zeigt sich, dass die Schwellen- und Entwicklungsländer oft schlechter bei den sozio-ökonomischen Ziele innerhalb der SDGs abschneiden.

KD: Durch Corona hat sich die Situation in vielen Bereichen nochmal verschärft. Die Zahlen zeigen, dass die Ungleichheit weiterwächst und auch zwischen den Staaten sind die Lasten sehr unterschiedlich verteilt. Internationale Kooperation könnte da Abhilfe schaffen – wird aber durch Corona auch teils erschwert. Welche Lehren ziehen Sie aus den letzten Monaten?

Die Pandemie hat gezeigt, dass Gesellschaften mit hoher Armut und unzureichender sozialer Sicherung anfälliger für die Ausbreitung einer Pandemie und für ihre Folgewirkungen sind. Die Rückschritte sind gewaltig: die Zahl der Menschen, die in Armut leben, wächst wieder; der vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen erhobene Index menschlicher Entwicklung – der auch den Zugang zu Bildung und Gesundheit misst – fällt dramatisch ab. Internationale Solidarität beim Zugang zu Corona-Impfstoffen ist fundamental. Dazu gehört nicht nur die finanzielle Unterstützung der Länder mit niedrigem Einkommen beim Erwerb von Impfdosen, sondern auch die Förderung der WHO-Initiative zur Bündelung von Patenten und der Vergabe von Lizenzen, um den Impfstoff auch im globalen Süden zu produzieren. Das ist Aufgabe von Gesundheitspolitik im 21. Jahrhundert.

Besonders drastisch fallen die Unterschiede bei den Möglichkeiten aus, die Regierungen haben, um den wirtschaftlichen Folgen der notwendigen Lockdowns entgegenzuwirken: Während die Steuereinnahmen der afrikanischen Länder einbrechen und sie kaum Möglichkeiten haben, sich auf den privaten Finanzmärkten zu verschulden, legen die USA, Japan und die EU milliardenschwere Rettungspakete auf. Hier muss die internationale Zusammenarbeit unterstützen: durch Schuldenmoratorien und Erlasse, die entschiedenere Bekämpfung illegaler Finanzströme und Steuervermeidung und Budgetfinanzierung zur Abmilderung sozialer Härten. Insbesondere die Finanzpolitik muss hier handeln.

Schließlich ist entscheidend, die Konjunktur- und Unterstützungsprogramme zu nutzen, um Nachhaltigkeitstransformationen in der Energiewirtschaft, in der Landwirtschaft, im Verkehr voranzubringen – denn der Klimawandel und die Biodiversitätsverluste werden durch die Pandemie nicht aufgehalten, und große Teile der Konjunkturpakete sind leider ökologisch blind bzw. sogar kontraproduktiv, insbesondere in den großen Schwellenländern, aber auch in den USA, Kanada, Australien und Japan.

KD: Schauen wir mal ganz konkret auf die Energiewende. Die Umstellung auf Elektromobilität, Batteriespeicher und die Wasserstoffwirtschaft sind nur drei Bereiche, die stark auf Importen basieren, entweder von Rohstoffen wie Kobalt oder Lithium oder des Energieträgers Wasserstoff. Was müssen wir tun, um diese Wertschöpfungsketten im Sinne der globalen Nachhaltigkeit zu gestalten?

Auf die negativen transnationalen Effekte, die von Deutschland ausgehen („spillover-Effekte“), hat das Sustainable Development Solutions Network (SDSN) schon früh hingewiesen in seinem SDG Index. Hier gibt es vor allem schlechte Bewertungen für Umweltgefährdungen, die mit Einfuhren nach Deutschland verbunden sind: Emissionen von Kohlendioxid, Stickstoff und Schwefeldioxid und die Gefährdung der Artenvielfalt auf dem Lande und in den Ozeanen. Nach Berechnungen von SDSN gehört Deutschland weltweit zu den 15 Ländern mit den höchsten negativen spillover-Effekten im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. Ob das neue Lieferkettengesetz auch die von Ihnen genannten Importe nachhaltiger machen wird, kann ich noch nicht beurteilen; es wäre aber notwendig für Elektromobilität und Batteriespeicher. Um das Transformationspotenzial der Wasserstoffwirtschaft zu nutzen fordert der RNE, dass sich die Wasserstoffwirtschaft auf Wasserstoff aus erneuerbaren Energien fokussiert. Mit europäischen Nachhaltigkeitsstandards soll erreicht werden, dass die Verminderung von Treibhausgasemissionen in Deutschland und der EU durch Wasserstoffimporte nicht mit erhöhten Emissionen in den Exportländern verbunden ist. Dort soll vielmehr auch die Dekarbonisierung der eigenen Energieversorgung gefördert werden. Außerdem sollen für die lokale Bevölkerung keine Nachteile beim Zugang zu Land und Wasser entstehen, und es sollen gute Arbeitsplätze vor Ort entstehen.

KD: Nach der Wasserstoffroadmap hat die Landesregierung jetzt auch die Entwürfe für das neue Klimaschutzgesetz und das Klimaanpassungsgesetz veröffentlicht. In beiden werden auch die Kommunen wieder verstärkt in die Pflicht genommen. Dass die Energiewende auf der lokalen Ebene geschieht ist ja eine wohlbekannte Binsenweisheit. Welche Rolle spielen die Kommunen, gerade vor dem aktuellen Hintergrund, beim Erreichen der Nachhaltigkeitsziele? Und was können wir tun, um dabei unterstützend zu wirken?

Städte und Kommunen sind fundamental für die nachhaltige Umgestaltung von Bauen, Wohnen, Verkehr, Energie- und Wasserversorgung. Viele Nachhaltigkeitsziele können ohne Städte und Kommunen gar nicht erreicht werden. Deshalb ist es gut, dass viele Kommunen eigene Nachhaltigkeitsstrategien erarbeitet haben, die sich an der Agenda 2030 und der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie orientieren. Städte wie Ludwigsburg oder Freiburg haben eigene Referate und ein eigenes Nachhaltigkeitsmanagement aufgebaut. So erleben Menschen vor Ort, was nachhaltiger Umbau bedeuten kann und können dies auch teilweise mitgestalten. Der RNE führt dazu seit 2010 den Oberbürgermeister-Dialog „Nachhaltige Stadt“ durch und unterstützt damit den Austausch zwischen den Kommunen. Das ist eine ganz wichtige Dynamik, die auch den Ländern und dem Bund zeigt, wie wichtig Nachhaltigkeitstransformation vor Ort ist und dass es sich lohnt, diese Prozesse zu fördern.

KD: KlimaDiskurs.NRW bringt ja die verschiedensten Akteure aus Wirtschaft und Industrie, Zivilgesellschaft und Wissenschaft zusammen. Sie kennen uns und unsere Aktivitäten nun auch über Ihr Engagement bei der Stiftung Umwelt und Entwicklung NRW schon eine ganze Weile. Wenn Sie uns mit Blick auf die Nachhaltigkeitsziele und internationale Zusammenarbeit etwas ins Stammbuch schreiben würden, was wäre das?

Der KlimaDiskurs.NRW hat sich zum Ziel gesetzt, „den Klimaschutz voranzubringen und gleichzeitig den Industrie- und Wirtschaftsstandort Nordrhein-Westfalen zu sichern“; so steht es auf Ihrer Webseite. Dafür vernetzen sie die „wesentlichen Akteure aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft“; das heißt Sie setzen auf diejenigen, die bereits dabei sind und auf die Beschleunigung des Wandels, die aus Verständigung und Kooperation entstehen kann – denn auch wenn man sich beim Ziel einig ist, entstehen ja häufig Konflikte im Detail. Ich finde diese Initiative sehr gut – Sie tragen dazu bei, dass Vertrauen entsteht und Erfahrungen mit Konfliktlösungen. Das kann auch helfen, neue Themen besser anzupacken, wie zum Beispiel die Wasserstoffwirtschaft in NRW oder die Anpassung an den Klimawandel, zwei neue Themen im vergangenen und in diesem Jahr. Wichtig wäre mir, dass Sie diese Themen in den Kontext der Nachhaltigkeitsziele stellen: Klimaschutz und Anpassung an den Klimawandel sind wesentliche Bestandteile von nachhaltiger Entwicklung. Sie erfordern und produzieren viele Neuerungen, denen es guttut, wenn sie nicht nur darauf abzielen, klima-, energie- oder wirtschaftspolitische Ziele voranzubringen, sondern auch die soziale und ökologische Nachhaltigkeit. Das lenkt zunächst den Blick auf Konflikte, hilft aber auch dabei, sie von vornherein einzubeziehen und macht Lösungen auch langfristig wirksam. Also, Mut zur Betrachtung von Schnittstellen zwischen Klima und Nachhaltigkeit!