Gesellschaftliche Transformation braucht alltägliche Begegnungsorte

Rainald Manthe, Soziologe & Autor

Warum ist unsere Gesellschaft transformationsmüde? Weil sich die sozialen Grundlagen unserer Demokratie verändert haben, sagt Rainald Manthe. Wir begegnen immer mehr Menschen, die genauso sind wie wir. Und das ist ein Problem für Demokratie.

(c) Stefan Lengsfeld

Der neue Bundestag ist gewählt und schwarz-rot verhandelt über die Bildung einer Koalition. Die Verhandelnden mussten auch feststellen, dass Deutschland vor riesigen Transformationsherausforderungen steht, die auch viel Geld kosten werden – in Dimensionen, die einige Akteure zuvor nicht wahrhaben wollten.

Sind das nur abgehobene Elitendiskurse? Mitnichten. Auch in der Bevölkerung werden Transformation und Klimapolitik zunehmend als Politik bestimmter Lager gesehen.

Demokratie fehlt Begegnung

Hierfür gibt es viele Ursachen. Eine wird kaum beachtet: Die gesellschaftlichen Grundlagen unserer Demokratie haben sich verändert. Konkret: Wem die Deutschen täglich begegnen, ist heute anders als noch vor 20 oder 30 Jahren. Viele der Orte, an denen Gesellschaft noch vor ein, zwei Jahrzehnten zusammenkam, sind weniger geworden. Das sind etwa Kneipen, aber auch Schwimm- und Freibäder, Bibliotheken, Jugendclubs für die Jüngeren.

Drei Prozesse waren dafür maßgeblich verantwortlich. Die Deutschen sind, erstens,  individualistischer geworden. Retreat statt Kirche, Fitnessstudio statt Sportverein, projektförmiges Engagement statt Partei – die Elemente des Lebens werden heut freier gewählt. Das führt aber auch dazu, dass wir immer mehr Menschen begegnen, die uns in verschiedenen Dimensionen ähnlich sind.

Der Rückzug des Staates

Der Staat hat sich, zweitens, aus der Finanzierung öffentlicher Infrastrukturen zurückgezogen. Seit den 1990ern hieß es: Markt statt Staat. Und das hatte gute Gründe, der Staat war langsam, bürokratisch und altbacken. Der Markt sollte es richten. Kommunale Schwimmbäder wurden durch teure Erlebnisbäder ersetzt, Shoppingmalls ersetzten belebte Innenstädte, die Öffnungszeiten vieler staatlich finanzierter Einrichtungen wurden reduziert. Heute merken wir: Es wurde vielerorts zu weit getrieben.

Und drittens wohnen die Deutschen stärker unter sich. Zumindest für die deutschen Städte kann man feststellen: Einkommensstark und mit hohen Bildungsabschlüssen findet man eher am Stadtrand, arm und bildungsarm eher in den Hochhaussiedlungen der 1960er und 70er Jahre.[i] Man trifft sich weniger: im Hausflur, beim Einkaufen, aber auch in der Schule und beim Elternabend. Eine Nebenfolge dieser drei Prozesse ist der Wegfall vieler Begegnungsorte. Das hat Rückwirkungen darauf, wie wir zu Menschen stehen, die anders sind als wir selbst.

Demokratie braucht Begegnung

Demokratie braucht Begegnung von Angesicht zu Angesicht.[ii] Wir müssen immer mal wieder einen Ausschnitt der Menschen wahrnehmen, mit denen wir in einer Gesellschaft leben. Dafür spielen auch viele, flüchtige Begegnungen eine Rolle, denn auch sie irritieren unsere Stereotype. Sprachlicher Austausch, die wiederkehrende Begegnung der immer gleichen Menschen und das gemeinsame Tun ergänzen diese Form.

So werden Unbekannte zu legitimen Anderen: Wir erkennen sie als Gesellschaftsmitglieder an, obwohl sie anders sind. Das ist in Demokratien wichtig, denn abstrakt einigen wir uns mit all diesen anderen Mitgliedern der Gesellschaft auf die Regeln des Zusammenlebens.

Begegnungsorte heute

Wo Großorganisationen, der Staat oder Großbetriebe heute nicht mehr für Begegnung sorgen, springt oft die Zivilgesellschaft ein und gestaltet Begegnung. Sie setzen oft an konkreten Bedarfen vor Ort an: Nachbarschaftstreffs, Stammtische beim Bäcker, Gartenprojekte oder Sportgruppen.

Neben zivilgesellschaftlicher Initiative braucht es aber auch stetige Orte. Hier kommen vor allem kommunale Infrastrukturen ins Spiel, etwa Bibliotheken, Volkshochschulen, Schwimmbäder, Schulen. Auch die Wirtschaft kann Begegnung gestalten: Durch Kooperationen, etwa, wenn man selbst Flächen hat, die andere bespielen. Durch den Umbau von Verkaufsflächen zu multifunktionalen Orten – was auch Infrastrukturkosten spart.

Eine resiliente Demokratie braucht das Vertrauen der Menschen ineinander. Die Art, wie wir einander begegnen, wie vielfältig, wie angenehm oder unangenehm diese Begegnungen sind, hat Einfluss auf dieses Vertrauen. Und die Orte, an denen Begegnung möglich sind, bestimmen darüber, wie diese Begegnungen aussehen.

 

 

Rainald Manthe ist Soziologe, freier Autor und Vorstand der spendenfinanzierten Stiftung Bildung. In seinem 2024 erschienen Buch „Demokratie fehlt Begegnung“ widmet er sich den Alltagsorten der Demokratie und der Frage, wie sie weiterentwickelt werden können. Er schreibt regelmäßig zu den Herausforderungen und Entwicklungen der Demokratie. www.rainald-manthe.de


[i] Helbig, Marcel. 2023. Hinter Den Fassaden. Zur Ungleichverteilung von Armut, Reichtum, Bildung Und Ethnie in Den Deutschen Städten. Berlin.

[ii] Ausführlich in Manthe, Rainald. 2024. Demokratie Fehlt Begegnung. Über Alltagsorte Des Sozialen Zusammenhalts. Bielefeld: transcript verlag.