5 Fragen an… Dr. Thorsten Dreier

Dr. Thorsten Dreier ist Vorstand für Technologie und Arbeitsdirektor bei Covestro. Im Gespräch mit KlimaDiskurs.NRW erklärt er, warum die sinkenden Treibhausgasemissionen in der Industrie kein Zeichen für mehr Klimaschutz sind, wie es um den Wirtschafts- und Industriestandort NRW steht und welche Impulse die Wahlen in der EU und den USA spielen könnten.

1. So erfreulich die Überschrift „CO2-Ausstoß sinkt auf Rekordtief“ auch ist, die Ursachen für die stark gesunkenen Emissionen im Industriesektor sind gerade für das Industrieland NRW besorgniserregend. Was erwarten Sie für 2024?

Richtig ist, dass die CO2-Emissionen der Industrie in Deutschland 2023 im Vergleich zum Vorjahr um 12 Prozent gesunken sind. Die Ergebnisse der Agora Energiewende lösen bei mir trotzdem keine Jubelstürme aus. Denn der Rückgang ist vor allem das Ergebnis eines sinkenden Produktionsniveaus in den energieintensiven Branchen. Allein die Produktion der Chemie- und Kunststoffindustrie ist binnen zwei Jahren um rund 20 Prozent zurückgegangen. Aktuell ist noch keine Trendwende erkennbar, dringend benötigte Nachfrageimpulse aus Schlüsselbranchen wie Bauen und Wohnen, Elektronik und Automotive bleiben aus. Die Aussichten bleiben also weiterhin trübe, der Verband der chemischen Industrie erwartet gar einen weiteren Rückgang der Umsätze um drei Prozent. Die Hoffnungen der Industrie verlagern sich zunehmend in Richtung 2025. Zugleich müssen wir aber weiterhin die Transformationsaufgaben schultern. Das stellt viele Unternehmen vor große Herausforderungen.

2. Welche Maßnahmen braucht es jetzt dringend, um Wirtschaft und Industrie im Land zu halten und in der Transformation zu unterstützen?

Entscheidend ist, dass wir vom Reden endlich zum Handeln kommen. Denn die Problemlage und die notwendigen Rahmenbedingungen für das Gelingen der Transformation sind hinreichend beschrieben. Dazu gehören vor allem substanzielle Entlastungen bei den Energiekosten, die Offenheit für neue Technologien – wie etwa beim Thema CCS/CCU – sowie eine deutliche Beschleunigung von Genehmigungsverfahren. Zugleich brauchen wir auch sichere Finanzierungsgrundlage für Förderinstrumente sowie einen schnelleren Infrastrukturausbau für den Transport von Wasserstoff und CO2. All das würde der Industrie die notwendige Planungssicherheit verschaffen, um Entscheidungen für langfristige Investitionen in Deutschland zu treffen – zum Beispiel in energieeffizientere Anlagen, nachhaltige Materiallösungen und emissionsarme Prozesstechnik. Sie liefern die Grundlage für eine klimaneutrale Chemieproduktion in Deutschland bis 2045. Dafür müsste der Schalter gleichwohl jetzt direkt umgelegt werden.

3. Wie beurteilen Sie die deutsche Industriestrategie mit Blick auf die Bedürfnisse der Unternehmen in NRW?

Positiv ist zunächst zu betonen, dass die Strategie ein klares Bekenntnis zum Industriestandort Deutschland abgibt und die große Bedeutung der Grundstoffindustrie für die gesamte Wertschöpfungskette hervorhebt. Das ist ermutigend. Auch für die vielen Produktionsstandorte der Chemie- und Kunststoffindustrie in NRW. Allein hier beschäftigt die Branche rund 93.000 Menschen und erwirtschaftet einen Umsatz von mehr als 42 Milliarden Euro pro Jahr. Damit das so bleibt, braucht es gleichwohl eine aktive Industriepolitik auf allen politischen Ebenen, die unmittelbar wirkt und langfristig Sicherheit gibt. Im Hinblick darauf bleibt die Strategie des Bundes in vielen Punkten zu vage – eine rasche Umsetzung ist daher nicht in Sicht. Dadurch steigt die Gefahr, dass energieintensive Unternehmen vermehrt ins Ausland abwandern und die Deindustrialisierung in Deutschland ungebremst voranschreitet.

4. Was bringt die gesenkte Stromsteuer?

Die Entlastungen bei der Stromsteuer – die mit einem Wegfall des Spitzenausgleichs einherging – belaufen sich für Covestro auf einen niedrigen einstelligen Millionenbetrag pro Jahr. Die Energiekosten für 2023 dürften sich auf etwa 1,1 Milliarden Euro aufsummiert haben, die genauen Zahlen veröffentlichen wir in Kürze. Die Entlastung bei der Stromsteuer ist also nicht mehr als der sprichwörtliche Tropfen Wasser auf den heißen Stein. Wobei man eigentlich gar nicht von einer Entlastung sprechen kann. Denn durch den Wegfall des geplanten Bundeszuschusses und der damit einhergehenden Erhöhung der Netzentgelte bleibt für 2024 unterm Strich sogar eine Mehrbelastung bei den Energiekosten. Das wird der aktuellen Lage der energieintensiven Unternehmen überhaupt nicht gerecht.

5. Welche Rolle spielen die Wahlen in Europa und den USA mit Blick auf den Zusammenhang von Klimaschutz und Entwicklung der Industrie?

Beide Wahlen sind richtungsweisend. Mit Blick auf die USA ist zu erwarten, dass die Regierung unabhängig vom Wahlausgang am Inflation Reduction Act festhalten dürfte. Denn das Paket liefert viele Investitionsimpulse für Transformationsprojekte vor Ort. Europa muss hier schnellstmöglich nachziehen. Ansonsten besteht das Risiko des Green und Blue Leakage. Es ist daher kein Geheimnis, dass sich unter anderem die Chemie- und Kunststoffindustrie für die kommende Legislaturperiode in Europa einen neuen Politikstil wünscht. Die EU braucht eine klare Prioritätensetzung. Sie muss mehr fördern, Anreize schaffen und Freiräume lassen. Umso wichtiger ist es, dass die europäische Industriepolitik nun wieder Fahrt aufnimmt. Erst diese Woche haben der belgische Ministerpräsident de Croo und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Antwerpen eine neue Absichtserklärung veröffentlicht, die den EU Green Deal durch einen Industriepakt flankieren soll. Auch wir gehören zusammen mit gut 70 anderen Unternehmen und Verbänden zu den Mitunterzeichnern der Deklaration und unterstützen das Vorhaben ausdrücklich. Denn es rückt wichtige Themen wie eine sichere Rohstoffversorgung, den Ausbau der erneuerbaren Energien und die öffentliche Förderung von Innovationen mehr in den Fokus. So kann die EU ihre selbst gesteckten Transformationsziele erfüllen und die Wirtschaftskraft ihrer Unternehmen erhalten.